11 Jahre Bürgermeister, Tausende Begegnungen, unzählige Sitzungen, 7 Tage und 80 Stunden Arbeit pro Woche – aber was nimmt man aus einem solchen Amt menschlich mit? Wir haben Christoph Tesche zu seinem Ausscheiden um eine persönliche Bilanz gebeten.
Welches waren die drei Projekte, in die Sie persönlich am meisten Herzblut investiert haben?
Erstens, zu Beginn meiner Amtszeit: die neue Philharmonie Westfalen davor zu bewahren, in die Insolvenz zu gehen. Zweitens das Bauprojekt Marktquartier, die Revitalisierung der Karstadt-Gebäude, in die ich viel Herzblut investiert habe. Und drittens bin ich als Bürgermeister natürlich immer Troubleshooter: Hier habe ich versucht, allen gerecht zu werden – übrigens unabhängig davon, ob es das Anliegen eines einzelnen Bürgers war oder ob es um übergeordnete Dinge ging. Ich habe versucht, aus der Situation heraus zu helfen oder zumindest für Entscheidungen, die getroffen wurden, um Verständnis zu werben.
Nicht alles ist projektbezogen. Welche Querschnittsaufgaben waren Ihnen dauerhaft wichtig?
Zum einen der interreligiöse Austausch, Glaube, Religion und die Stellung der Kirchen in unserer Stadt. Zum anderen habe ich ein großes Interesse an Kunst und Kultur entwickelt – obwohl das zu Beginn eher nicht mein Thema war. Der Kampf um die Philharmonie war für mich eine Art Initialzündung, um Kunst und Kultur sehr in den Mittelpunkt meiner Arbeit zu stellen.
Welche Entscheidung ist Ihnen am schwersten gefallen?
Alle Entscheidungen, die mit der Pandemie zu tun hatten – weil das tiefe Eingriffe in die Freiheit der Menschen und in die gesellschaftlichen Abläufe waren. Ich vergesse nie, wie wir die Verordnungen umsetzen, aber auch erträglich gestalten mussten. Das ist uns in Recklinghausen aus meiner Sicht gut gelungen, weil wir einen großen gesellschaftichen Zusammenhalt beibehalten haben.
Gab es einen Moment, in dem Sie dachten: „Dafür lohnt sich der ganze Stress“?
Den einen Moment hat es nicht gegeben. Aber es gab immer wieder Ereignisse, die mich haben stolz sein lassen auf unsere Stadt – so wie zuletzt der Weltrekord mit über 1.000 Streichern auf dem Rathausplatz. Solche Momente machen mich stolz, weil sie ein schönes Symbol für den Gemeinsinn in dieser Stadt sind.
Eine Situation, in der Sie sich vor Lachen kaum halten konnten?
Das waren wohl die vielen schönen Begegnungen mit kleinen Kindern, die mich mit Fragen bombardieren – das lässt einen schon schmunzeln, wie Kinder die Welt und das Amt eines Bürgermeisters sehen. Und natürlich immer wieder beim Hurz!
Hinterher ist man immer schlauer. Wo haben Sie sich geirrt?
Getäuscht habe ich mich vielleicht im Abgleich von Eigen- und Fremdwahrnehmung. Ich habe mich und mein Wirken als Bürgermeister viel kritischer gesehen, als das offenbar viele Menschen tun. Das schließe ich zumindest aus der enormen Wertschätzung und dem Dank, die mir in den letzten Monaten von sehr vielen Menschen und Gruppen entgegenbracht wurden.
Was war eine besonders bewegende Begegnung mit Menschen, die Sie nie vergessen werden?
Vielleicht mit dem Roncalli-Direktor Bernhard Paul in der Corona-Zeit: Ihm musste ich am Tag seiner Premiere untersagen, überhaupt spielen zu dürfen. Das hat er natürlich mit viel Unmut zur Kenntnis genommen. Spätabends habe ich an seinem Wagen noch Licht gesehen und angeklopft. Er hat mich erst wüst beschimpft, mir dann einen Kaffee angeboten und später einen Rotwein. Heute sind wir tatsächlich lange Freunde!
Gab es einen Moment, an dem Sie am liebsten alles hingeschmissen hätten?
Nein. Aber es gab die eine oder andere dunkle Stunde. In der Pandemie, weil die Entscheidungen so weitreichend waren. Auch das Zugunglück mit den Kindern hat mich sehr bewegt. In solchen Situationen überprüft man sich schon immer wieder selber.
Was haben Sie als Bürgermeister (auch über sich selbst) gelernt?
Persönlich, dass ich mich bei Kritik unter der Gürtellinie bemüht habe, das gelassen zu nehmen. Das ist mir nicht immer gelungen, weil man sich schon manchmal ungerecht behandelt fühlt. Bestätigt wurde meine Ansicht, dass ein Bürgermeister niemals eine One-Man-Show ist, sondern ein gutes Team braucht – in der Stadtverwaltung, aber auch im Zusammenspiel mit der Politik.
Ein Lieblingsort, an dem Sie Energie tanken können?
Für mich tatsächlich kirchliche Gottesdienste, weil ich da auch mal abschalten und die Stille der Liturgie genießen kann.
Was wünschen Sie Ihrem Nachfolger/Ihrer Nachfolgerin?
Dass sie Vertrauen in die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung haben und deren Arbeit zu schätzen wissen. Dass sie beherzigen: Die Wertigkeit eines Menschen ist unabhängig von der Bedeutung seiner Funktion. Und dass sie versuchen, unterschiedliche Positionen zusammenzuführen um einen möglichst breiten Konsens zu erzielen. Das war das Credo meiner Arbeit.
Gibt es eine Sorge, die Sie um die Zukunft von Recklinghausen haben?
Ich wünsche mir, dass unsere Stadt eine große Mitte der Gesellschaft behält. Und ich hoffe, dass Recklinghausen sich als Dienstleistungs- und Handelsstadt behauptet und sich weiter gegen den Trend stemmt, dass Innenstädte auszubluten drohen.
Was Sie Ihren Bürgerinnen und Bürgern immer schon mal sagen wollten (sich aber nicht getraut haben?)
Was mir wichtig ist: Dass die Menschen erst einmal den Personen in Verantwortung eine Chance geben – und nicht pauschal von Anfang kein Vertrauen entwickeln. Über Weg und Ziele kann man streiten, aber: Wir sollten handelnden Personen in Ehrenämtern, in der Verwaltung bis hin zum Bürgermeister zunächst einmal unterstellen, dass sie Gutes bewirken wollen und nicht egoistisch oder ideologisch motiviert sind. Bei aller Kritik sollte man auch mal den Blick darauf lenken, was alles klappt – und dass die positiven Dinge in unserer Gesellschaft und in unserer Stadt doch deutlich überwiegen.